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4. Januar 2021· 9 Minuten Lesezeit

Sind Menschen mit Asthma besser vor einer COVID-19-Infektion geschützt?

Eine der vielen Unbekannten bei COVID-19 ist die Frage, wie gefährlich die Infektion für Menschen ist, die an chronischen Atemwegserkrankungen wie Asthma leiden.

Während der gesamten Pandemie wurde bisher davon ausgegangen, dass jeder, der an einer chronischen Erkrankung leidet, wahrscheinlich auch ein bereits geschwächtes Immunsystem hat, wasdas Risiko einer Ansteckung undeinesschweren Verlaufsvon COVID-19vergrössernkönnte. Eine neue Studie aus Israel deutet jedoch darauf hin, dass Menschen mit Asthma eine geringere Anfälligkeit für das SARS-CoV-2-Virus haben*.

Diese Erkenntnisse könnten von grosser Bedeutung sein, da Ärzte und politische Entscheidungsträger mit der Frage kämpfen, wie sie die Impfstoffe am besten verteilen (und Forscher weiterhin die Wirksamkeit dieser Impfstoffe erforschen).

Menschen mit Asthma sind möglicherweise weniger anfällig für COVID-19

Die zentralen Ergebnisse der Studie sind ziemlich beeindruckend: Eine retrospektive Analyse von über 37.000 Versicherten einer israelischen Krankenkasse, die mit einem PCR-Test (der als beste verfügbare Testmethode gilt) auf COVID-19 getestet wurden, ergab, dass bei 6,75 % der positiv auf das Virus Getesteten auch Asthma diagnostiziert worden war. Dies ist ein relativ gutes Ergebnis im Vergleich zu den 9,62 % unter den negativ getesteten Personen, bei denen zuvor ebenfalls Asthma diagnostiziert worden war.

Bei einem p-Wert unter 0,001 gilt die Studie als statistisch signifikant und die Forscher stellen fest, dass Menschen mit Asthma als Vorerkrankung im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung weniger anfällig für COVID-19 zu sein scheinen.

Interessanterweise ergab die Studie auch, dass Menschen, die rauchen (oder in der Vergangenheit geraucht haben), ebenfalls weniger anfällig für das Virus zu sein scheinen. Diese Erkenntnis hat ohne Zweifel das Potenzial, bisherige Annahmen komplett auf den Kopf zu stellen. Daher haben die Autoren alles unternommen, um mögliche Störfaktoren wiegleichzeitige Medikamenteneinnahme(Antileukotriene, inhalative Kortikosteroide und langwirksame Bronchodilatatoren), Begleiterkrankungen und demographische Faktoren zu berücksichtigen. Unabhängig von der Justierung blieb das erkennbar niedrigere Risiko bestehen.

Warum Menschen mit Asthma möglicherweise weniger anfällig für COVID-19 sind

Die Autoren nannten mehrere mögliche Gründe für ihre überraschenden Ergebnisse. Ihre zentrale Hypothese konzentriert sich auf das Angiotensin-konvertierende Enzym 2 (ACE2). ACE2 ist ein Protein, das bei einer Vielzahl von Zellen im gesamten Körper auf der Oberfläche sitzt und bei der Regulierung des Blutdrucks hilft. Es fungiert auch als «Türöffner» für das SARS-CoV-2-Virus, das sich an den Rezeptor heftet und dann seinen Weg in die Zelle bahnt. Obendrein blockiert diese Belegung des Rezeptors dessen normale Funktion, was wiederum Entzündungen und andere Symptome begünstigt, die mit der COVID-19-Erkrankung* einhergehen.

Bei Menschen mit Asthma und Allergien der Atemwege ist die ACE2-Ausprägung tendenziell eingeschränkt; daher geht man davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit einer Infektion geringer ist, da es weniger Stellen gibt, an denen das Viruspartikel «klebenbleiben» kann.

Mögliche Störfaktoren

Auf der mikrobiologischen Ebene ist diese Hypothese einleuchtend. Doch wie immer gilt: Aus einer Korrelation darf keine automatische Kausalität abgeleitet werden. Die Autoren betonen dies zwar auch in ihren Schlussfolgerungen, aber diese Nuance geht bei der Interpretation einer wissenschaftlichen Publikation in der allgemeinen Berichterstattung häufig verloren. Daher ist es wichtig, einen Blick auf einige der Störfaktoren zu werfen, die möglicherweise diese unerwarteten Ergebnisse erklären könnten.

Die Lebensweise von Menschen mit Atemwegserkrankungen

Zunächst einmal ist es durchaus möglich, dass sich in der Kohorte der COVID-19-positiven Patienten weniger Asthmatiker befanden, einfach weil eben diese Betroffenen mehr Vorsichtsmassnahmen getroffen haben. In der Studie selbst wurde dies zwar nicht erwähnt, aber der zweite Autor der Studie, Dr. Eugene Merzon, wies in einem späteren Interview auf diese Möglichkeit *hin.

Diese Hypothese wurde auch als Erklärung dafür herangezogen, warum Menschen mit COPD in den COVID-19-Kohorten *insgesamt eher unterrepräsentiert sind. Auch dies ist durchaus plausibel: Menschen, die mit chronischen Atemwegserkrankungen leben, sind bereits gut darin geübt, Reizstoffe und Auslöser zu vermeiden, und neigen im Allgemeinen dazu, strengere Vorsichtsmassnahmen zu ergreifen. Ganz klar: Angesichts der Tatsache, dass für Menschen mit COPD eine Ansteckung mit COVID-19 grösstenteils als «Todesurteil» angesehen wird, steht sehr viel auf dem Spiel und die Risikominimierung ist von hoher Priorität.

Eine eingeschränkte Aussetzung gegenüber dem Virus, das Tragen von Masken sowie Hygienemassnahmen reduzieren alle das relative Risiko, dass das Virus überhaupt in die Nähe der ACE2-Rezeptoren gelangt.

Könnten inhalative Kortikosteroide zum Schutz vor COVID-19 beitragen?

Eine weitere von Dr. Merzon aufgestellte Hypothese betraf die möglicherweise schützende Wirkung von inhalativen Kortikosteroiden (ICS).

Die Behandlung mit ICS im Rahmen von COVID-19 ist sehr umstritten, wobei die aktuelle Forschung ständig weiter differenziert, in welchen Populationen sie möglicherweise eine Rolle spielen könnte. Gegenwärtig besteht Konsens über eine Anwendung von ICS in schweren Fällen, und diese Studie trägt nichts bei, dass diese Ansicht ändern würde. In seiner nachträglichen Betrachtung wies Dr. Merzon jedoch erneut darauf hin, dass einige parallele Studien gezeigt haben, dass zumindest einige ICS-Moleküle möglicherweise die Virenreplikation reduzieren, was wiederum den Schweregrad einer COVID-19-Erkrankung* verringern könnte.

Dabei sollte man jedoch bedenken, dass die meisten Studien und Metaanalysen keinen Schutzeffekt auf der Populationsebene gezeigt haben. Trotzdem ist denkbar, dass alle diese Faktoren zusammen das Risiko verringern könnten.

Bestimmung von Asthma ohne Spirometrie oder andere diagnostische Tests

Es gibt jedoch noch eine weitere Möglichkeit, die in der Studie und bei der Nachbetrachtung weitgehend unerwähnt geblieben ist: die diagnostische Unsicherheit.

Laut dem Abschnitt «Probanden» in der Studie wurden Personen als Asthmatiker eingestuft, wenn sie wenigstens einen asthmabezogenen ICD-9-Diagnoseschlüssel in ihrer Krankenakte aufwiesen und zudem Belege für eine Verschreibung von einem oder mehreren asthmabezogenen Medikamenten in den letzten 12 Monaten vorlagen. Es werden keinerlei diagnostische Tests erwähnt, wie z. B. ein bronchialer Provokationstest oder auch nur eine einfache Spirometrie. Darüber hinaus wurde jeder Patient, der einen Diagnoseschlüssel im Zusammenhang mit COPD aufwies, explizit ausgeschlossen. Wie die Autoren weiter ausführen, konnten sie daher in dieser Population das Risiko für COVID-19 nicht beurteilen, obwohl viele COPD-Patienten auch unter ausgeprägten Entzündungen leiden.

Präzise Diagnose chronischer Atemwegserkrankungen

Leider bedeutet dies, dass die Auswertung zu 100 % davon abhängt, wie zuverlässig die Krankenakte ist. Natürlich erstellt niemand absichtlich eine fehlerhafte Krankenakte, aber sowohl Unter- als auch Überdiagnostik sind in der Welt der chronischen Atemwegserkrankungen gang und gäbe. Vor allem Asthma ist bekanntermassen schwer zu diagnostizieren, und insbesondere bei relativ milden Fällen, die laut Dr. Merzon und seiner Arbeitsgruppe die Mehrheit ihrer Kohorte ausmachten.

Verschiedene Untersuchungen gehen davon aus, dass die Rate der Überdiagnosen bei Asthma bei ca. 30 % liegt, was bedeutet, dass in 1 von 3 Fällen, die einen angeblichen Schutz gegen das Virus hatten, dieser Schutz möglicherweise gar nicht bestand*. Die Quote bei der Unterdiagnostik ist vermutlich mindestens genauso schlecht, wobei die besten verfügbaren Forschungsergebnisse darauf hindeuten, dass zwischen 30 und 50 % aller Fälle nicht diagnostiziert werden und die Symptome stattdessen einer der vielen anderen nicht-lungenbedingten Erkrankungen zugeschrieben werden, die Kurzatmigkeit* verursachen können. Auch diese ganz grundlegend fehlerhaften Daten könnten die endgültige Datenanalyse erheblich verfälschen und die Schlussfolgerungen in Frage stellen.

Die Wichtigkeit objektiver Testverfahren für eine korrekte Diagnose

Wie bei vielen anderen Erkenntnissen, die sich aus der Pandemie ergeben haben, ist es auch hier nun mehr als deutlich, dass die Gesundheitseinrichtungen auf der ganzen Welt viel mehr Wert auf objektive Testverfahren legen müssen, anstatt sich einfach auf die angegebenen Symptome zu verlassen.

Eine korrekte Diagnostizierung von Asthma ist selbst in guten Zeiten ein problematisches Unterfangen: Die verschiedenen nationalen und internationalen Behörden arbeiten mit uneinheitlichen Diagnosestandards, und die Krankheit selbst ist ebenfalls sehr heterogen. Da diese Studie jedoch die Verwendung der von der Globalen Initiative für Asthma (GINA) empfohlenen Leitlinien zur Beurteilung des Schweregrads von Asthmaerkrankungen erwähnt, scheint die Verwendung der GINA-Diagnostikempfehlungen ein vernünftiger Ansatzpunkt zu sein.

In ihrem neuesten Strategiebericht fordert die GINA mindestens drei Schritte im Rahmen einer Diagnostik: Berichtete Symptome, die typisch für Asthma sind, eine detaillierte Anamnese, die diese Diagnose aller Wahrscheinlichkeit nach stützt, und (entscheidende) Spirometrie-Tests, einschliesslich Beurteilung einer variablen exspiratorischen Atemflusslimitierung.7 Üblicherweise (insbesondere in der Allgemeinmedizin) würde dies in Form einer Spirometrie vor und nach einer Bronchodilatation erfolgen, wobei eine Verbesserung des forcierten exspiratorischen Volumens innerhalb 1 Sekunde (FEV1) von 12 % und mindestens 200 ml die Variabilität bestätigen (und stark auf Asthma hinweisen) würde.

Angesichts dieser Heterogenität bietet die GINA jedoch auch verschiedene Alternativen an, die von relativ aufwändig (Belastungstests oder bronchiale Provokationstests mit inhalativen Reizstoffen wie kalter Luft oder Methacholin) bis hin zu einfach und unkompliziert (serielle Messungen des exspiratorischen Spitzenflusses oder erneute Spirometrie nach einwöchiger Behandlung mit entzündungshemmenden Medikamenten) reichen.

Besserer Zugang zur Spirometrie kann die Diagnosesicherheit erhöhen

Objektive Tests helfen, die Spreu vom Weizen zu trennen und tragen wesentlich zur Verbesserung der Diagnosegenauigkeit bei.

Die meisten dieser Tests sind zudem nicht sonderlich komplex; mithilfe der heutigen Technologie können Spirometrie-Tests auch vor Ort bzw. in praktisch beliebigen Behandlungsumgebungen durchgeführt werden, und inhalative Bronchodilatatoren sind leicht zu beschaffen. Nach einer kurzen Befragung und einer Spirometrie vor und nach der Bronchodilatation können Personen mit Risikofaktoren bzw. mit Symptomen, die auf Asthma hindeuten, innerhalb von 20 Minuten mit ziemlicher Sicherheit diagnostiziert werden. Und noch besser: Viele dieser Geräte können mit bronchialen Provokationsprotokollen programmiert werden, so dass selbst umfangreichere Tests in Hausarztpraxen, Kliniken und anderen ambulanten Einrichtungen möglich sind.

Dies reduziert die Anzahl der Betroffenen, die andernfalls im Zuge einer Nachverfolgung durch Lungenfachpraxen oder überlasteten Lungenfunktionslabors durch das System rutschen könnten – besonders wichtig in Zeiten, in denen solche Praxen bereits durch pandemiebezogene Terminprobleme überlastet sind.

Die weitreichende Bedeutsamkeit einer einfachen, schnellen und genauen Diagnose

Natürlich wirken sich schlechte Daten weit über eine einzelne Studie hinaus nachteilig aus. Gelingt es nicht, bei der Diagnosestellung über die Verwendung von Annahmen und Vermutungen hinauszukommen, führt dies nicht nur zu mangelhaften Forschungsergebnissen, sondern hat auch massive Auswirkungen auf die Patientenversorgung. Nicht diagnostizierte Erkrankungen sind zwangsläufig nicht behandelte Erkrankungen, und eine fehlerhafte Diagnose führt dazu, dass frühzeitige Interventionen gegen das Fortschreiten der Erkrankung nicht möglich sind. Zudem führen diese Bedingungen möglicherweise zu unnötigen Ausgaben, da Ärzte bei der Behandlung von Krankheiten falsche Ursachen in Betracht ziehen und die Betroffenen einem frühzeitigeren Risiko von Behinderungen und Tod ausgesetzt sind.

Und auch wenn die meisten Atemwegsmedikamente als relativ harmlos gelten, haben sie doch sehr reale mögliche Nebenwirkungen und eine Überdiagnose setzt die Betroffenen unnötigen Risiken aus – während gleichzeitig ihre Therapie auf die falschen Ziele ausgerichtet ist. Diese Probleme werden auch nach dem Ende der Pandemie nicht verschwinden.

Kein Arzt möchte sich irren, aber gleichzeitig möchte auch kein Arzt seine Patienten unnötig belasten. Wenn dann noch Zeitdruck, Kostengründe und die vielen nicht-klinischen Faktoren hinzukommen, die in die medizinische Versorgung einfliessen können, ist die Versuchung gross, bei der Diagnosestellung auf «gut genug» zu setzen.

Glücklicherweise gibt es inzwischen eine wachsende Anzahl an Hilfsmitteln, dank derer sich die Ärzte nicht mehr mit «gut genug» zufrieden geben müssen. Fortschritte in den Testverfahren und Verbesserungen der Diagnosekriterien haben den Zugang zu objektiven Tests auf allen Ebenen deutlich einfacher gemacht, sowohl aus logistischer als auch aus finanzieller Sicht.

Genaue Diagnosen sind entscheidend für zuverlässige Forschungsergebnisse

In einem zunehmend datengestützten Gesundheitswesen wird es immer wichtiger, nicht nur die Integrität der Daten, sondern auch ihre Zuverlässigkeit sicherzustellen. Da sich Forschungsarbeiten auf Kostenerstattungsanträge, Krankenakten und andere retrospektive Datenquellen stützen, ist es entscheidend, dass diese Datensätze korrekt sind.

Können wir uns auf diese Daten nicht verlassen, können wir uns auch auf die darauf aufbauenden Rückschlüsse verlassen. Es gibt keinen Grund mehr, sich mit «gut genug» zu begnügen.

Michael Hess
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BS, RRT, RPFT
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